Ich habe erst lange geschlafen, bin auf der winterlichen Elbe Fähre gefahren und anschließend war ich in einem großen Kaufhaus um mir noch ein paar neue Winterschuhe zu kaufen.
Warum mein Telefon noch im Offline-Modus war weiß ich nicht, doch als ich dies änderte sah ich mehrere Anrufe meiner Eltern. Ich kehrte gerade bei einer Freundin ein und beschloß erst einmal zurückzurufen.
Meine Mutter ging sehr schnell ran. „Hallo mein Kind,“ sagte sie und klang dabei hörbar aufgewühlt. „Papa ist im Krankenhaus. Wie müssen uns auf das Schlimmste einstellen.“
Noch während diese Worte in meinem Kopf nachhallen, erzählt sie wie die beiden spazieren waren und sein Schritt unsicherer wurde, er seine Balance nicht mehr halten konnte. Ihr erster Verdacht war ein Schlaganfall, doch die Ärzte sagten etwas anderes: Aneurisma. Gehirnblutung. Diese kann so oder so ausgehen. Ob ich vorbeikommen soll frag ich, doch sie verneinte. Wir würden eh nur gemeinam weinen und könnten nichts tun. Sie würde sich wieder melden wenn sie mehr weiß.
Ich muss mich erstmal hinsetzen und stehe gleich wieder auf. Die Freundin bei der ich bin klimpert in ihrer Küche mit Geschirr und macht uns Tee.
Mein Daumen rotiert über dem Touchpad meines Telefons. Doch soll ich das eben Gehörte wirklich vertwittern? Ich lösche wieder alles.
(„Wir müssen uns auf das Schlimmste einstellen.“)
Ich kämpfe mit den Tränen, schreibe den Text erneut und schicke ihn ab. Zu diesem Zeitpunkt sind die Chancen 50/50.
Als ich mich knapp 2 Stunden später verabschiede und am Jungfernstieg umsteigen muss, ruft meine Mutter erneut an. Ich warte bis ich ausgestiegen bin und rufe zurück.
(„Wir müssen uns auf das Schlimmste einstellen.“)
Sie weint. „Tim. Wenn sie operieren ist die Chance sehr groß das er ein Pflegefall wird, wenn sie nicht operieren…dann wird er wohl sterben. Was soll ich denn tun? Wie soll ich mich denn entscheiden?“
Ich kann nur schweigen. Sprechen ist kaum möglich. „Das weisst Du auch nicht, nicht wahr?“
Ich weiß das es eine Patientenverfügung gibt und will fragen was diese besagt, doch sie kommt mir zuvor. Sie fährt zu einem guten Freund und will mit ihm schauen was darin steht.
Ich will nicht mit ihr tauschen wollen.
Da ich nicht allein sein kann und will rufe ich Florian an und frage ob ich vorbeikommen kann. Natürlich kann ich.
Während der Bahnfahrt lese ich die Nachrichten und Replies die ich auf Twitter erhalten habe und kämpfe erneut mit den Tränen. Es erstaunt und beührt mich wer mir schreibt. Es sind halt nicht nur 140 Zeichen von Fremden im Internet.
Bei Florian angekommen redet hauptsächlich er, nachdem ich ihm erzählt habe was vorgefallen ist. Es lenkt ab und vereinzelt kann ich schmunzeln.
Als das Telefon erneut klingelt und ich rangehe ist das Gespräch sehr kurz.
„Wir haben bald einen Schutzengel mehr. Ich melde mich wann.“ Die Stimme meiner Mutter ist tränenerstickt.
Keine OP. Was ich mir gedacht habe, was in der Patientenverfügung steht ist nun Gewissheit.
Vor 3 Wochen hatten meine Eltern ihren 45.Hochzeitstag, vor einer hatte mein Vater Geburtstag.
Es ist nur 3 Jahre her das ein Routineeingriff bei ihm zur Not-OP wurde in dessen Rahmen man im drei Bypässe gelegt hat. Da, wo sonst das Blut durch die Adern fliesst, kam es bei ihm nur noch tröpfchenweise an.
Das ganze Prozedere inklusive der Reha hat er gut überstanden, auch wenn er seitdem etwas wackeliger auf den Beinen war und vieles von dem was er vorher konnte jetzt nicht mehr ging.
„Ich hätte schon vorher jederzeit umkippen können, aber ich war halt noch nicht dran.“ sagte er damals.
Heute morgen dann der Anruf meiner Mutter. Es gab eine kleine und eine große Blutung. Die Chance das er nach einer OP ein Pflegefall gewesen wäre war sehr groß.
Meine Mutter hätte es nicht gewollt.
Ich hätte es nicht gewollt.
Und vor allem er hätte es nicht gewollt.
Mein Vater wurde 67 Jahre alt.